Weihnachten
Wenn sich italienische Touristen in die Nähe einer Glasbläserei bewegen, wird früher oder später ein fachmännisch-euphorisches „aaah, Murrini“ hörbar. In dieser Aussage liegt einerseits ein schwer aufklärbares Missverständnis („jedes mundgeblasene Glas stammt auch im 21. Jahrhundert aus Murano“), andererseits natürlich eine stolze Referenz an ein unleugbares Faktum der Glasverarbeitungs-Geschichte („ohne den Beitrag Muranos wäre alles anders gekommen“).
Die historischen Verdienste Venedigs um die Glasbläserkunst sind natürlich unbestritten. Auch wenn an der ligurischen Küste manche Orte Venedig den Rang streitig machen wollen – die Kontinuität und Qualität der venezianischen Glasmacher ist einzigartig. Ob nun der erste Ofen dort im fünften oder siebten Jahrhundert nach Christus gebaut wurde ist nicht so wichtig… die Phönizier waren ohnehin schon 2000 Jahre früher dran. Die zentrale Bedeutung kommt Venedig meiner Ansicht nach daher zu, weil sich konkurrierende Familien in ihren gewagten Experimenten in bis dahin ungeahnte und undenkbare künstlerische Höhen bewegt haben. Und meist ist es nicht die Kunst der Buntheit und des Überbordens, sondern jene der einfachen, reduzierten Objekte des 14. und 15 Jahrhunderts, die einen heute noch atemlos vor diesen Tellern, Schüsseln und Bechern stehen lassen. Glas hat ja einen einzigartigen Material-Vorteil, den sonst nur Edelmetalle aufweisen: Auch fünf-, sechs- oder siebenhundert Jahre nach seiner Erschaffung sieht ein Glaspokal gleich aus wie am ersten Tag. Für Planschende lästig, für die Erzeugung des klaren Glases unverzichtbar waren und sind übrigens die Algen der nördlichen Adria bzw die daraus gewonnene Pottasche. Die Beimengung dieser Ingredienz machte das Venezianische Glas relativ fälschungssicher – außerdem war es Glasbläsermeistern bei Todesstrafe verboten, ihre technischen Kenntnisse außerhalb der Insel zu verraten.
Heute besinnen sich in Murano selbst die Glaserzeuger wieder auf ihre Kernkompetenzen und versuchen nicht mehr so offensichtlich, fernöstliche Ausbeuterware an Touristen zu verkaufen (das soll übrigens in Rattenberg nicht ganz anders sein). Somit werden auch in hundert Jahren nicht die coolen skandinavischen Designer oder die findigen Waldglasbläser Washingtons Venedig den Rang als allerersten Weihe- und Verehrungsort für Glasliebhaber abspenstig machen können.